Aus der FAZ vom 11.08.1999
Argumente sind Pappnasen

Ist Wasser H2O?

Hilary Putman erfand in den siebziger Jahren die Zwillingserde: einen imaginären Planeten, der sich von der hiesigen lediglich dadurch unterscheidet, daß die klare, plätschernde, trinkbare Flüssigkeit, die sich dort in Bächen und Seen befindet, nicht die chemische Struktur H2O sondern die Struktur XYZ hat. Wenn ein Bewohner der Zwillingserde "Wasser" sagt, meint er nicht Wasser, denn Wasser ist H2O. Er meint Zwillings-Wasser, XYZ. Nach Putman zeigt dies, daß die Bedeutung von Wörtern nicht nur in unseren Köpfen steckt, sondern von der Essenz der Dinge abhängt.

Noam Chomsky verwies dagegen darauf, daß auch Dinge wie Sprite oder Tee, von denen man weiß, daß sie zum größten Teil aus Wasser bestehen, nicht Wasser genannt werden. Nicht die innere Struktur der Dinge mache demnach die Bedeutung der sie bezeichnenden Begriffe aus, sondern die besonderen Interessen, die die Menschen an diesen Dingen haben: Sprite nennt man nicht Wasser, weil es anders schmeckt, und darum geht es. Barbara Malt brachte diese Position auf die Formel "Wasser ist nicht H2O" (Barbara Malt, "Water is not H2O" , in Cognitive Psychology, Bd. 27, Heft 1, Academic Press, San Diego 1994).

Seitdem wird ein kurioser Streit darüber ausgetragen, ob Wasser nun H2O ist oder nicht. Malt hat, in einer Diskussion über Bedeutungstheorie ungewöhnlich genug, empirische Studien an-
gestellt. Wenn der putnamsche Essentialismus richtig ist, müßten Leute, die glauben, daß eine Flüssigkeit die chemische Struktur H2O hat, diese als Wasser bezeichnen, aber nicht, wenn sie glauben, daß die Flüssigkeit eine andere Struktur hat. Um dies zu überprüfen wurden Versuchspersonen zwei lange Listen vorgelegt, eine mit den Namen von Wassern und eine mit anderen Flüssigkeiten. Die Versuchspersonen sollten den H2O-Gehalt schätzen. Auf der Wasser-Liste kam "reines Wasser" auf 98,5 %, Badewasser auf 83,2 % und Abwasser immerhin noch auf 67 % H2O. Die Liste der anderen Flüssigkeiten führte Tee mit 91 % H2O an , Apfelsaft wurde auf 76,9 % geschätzt Knoblauchsaft auf 64 %. Damit scheint der Essentialismus empirisch widerlegt: Man nennt Tee nicht Regenwasser, obwohl der H2O-Gehalt beider gleich eingeschätzt wird.

In einem zweiten Experiment ließ Malt die Versuchspersonen einschätzen, welches Wasser das beste Beispiel für Wasser allgemein sei. Es zeigte sich, daß die geschätzte Reinheit ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor bei der Entscheidung war. Trinkwasser und Leitungswasser wurden für die besten Beispiele gehalten, Kühlwasser für das schlechteste. Das reine Wasser kam an achter Stelle. Demnach scheinen die besten Beispiele für Wasser die Arten zu sein, die im Alltag der Menschen vorkommen. Als Kriterium, ob etwas Wasser sei, schlägt Malt daher Fundort, Quelle, Funktion der Flüssigkeit und erst an letzter Stelle ihre Reinheit vor.

Für Barbara Abbott ist diese Argumentation überhaupt nicht plausibel ("A note on the nature of water", in : Mind, Bd. 106, Heft 2, Oxford University Press, 1997): Verschieden Dinge, die Wasser genannt werden, kommen aus verschiedenen Quellen, werden an unterschiedlichen Orten gefunden und haben unterschiedliche Funktionen. Andere, z.B. Evian und Perrier, kommen ebenso aus der Fabrik, werden im Kühlschrank aufbewahrt und sind zum Trinken da wie Sprite und Cola. Die drei neuen von Malt genannten Kriterien könnten demnach nicht erklären, warum manche Flüssigkeiten Wasser genannt werden und andere nicht.

Nach Abbott ist der Unterschied zwischen Tee und Wasser nicht der, daß das eine Wasser ist und das andere nicht. Beides ist in dem Maße Wasser, wie es aus H2O-Molekühlen besteht, es wird nur verschieden genannt. Schließlich seien auch alle Menschen physikalische Körper, aber sie sind nicht nur das, und wir nennen sie auch selten so. Es ist einfacher, einen Tee statt einer Tasse heißen Wassers mit Kräutern zu bestellen.

Diese Verteidigung des Essentialismus provozierte wiederum Joseph Laporte, seien Putnams Vorschlag, etwa 20 % Verunreinigung die Grenze, ab der ein H2O-Gemisch nicht mehr als Wasser bezeichnet würde, unter die Lupe zu nehmen (Joseph Laporte, "Living Water", in Mind, Bd. 107, Heft 1, Oxford University Press, 1998). Sein Ergebnis: Der H2O-Gehalt kann es nicht sein, was Wasser zu Wasser macht. Das Wasser des Great Salt Lake in Utah etwa enthält 28 % Mineralien. Wenn das den Standard setzt, müsse man auch Blut und, schlimmer noch, Frösche, Hühner, Regenwürmer und kleine Kinder als Wasser bezeichnen, denn sie enthalten weniger "Verunreinigungen" als das Wasser des Great Salt Lake. (Erst ältere, übergewichtige Menschen enthalten weniger Wasser, wie Laporte versichert.)

Abbott findet diese Argumentation geschmacklos. Die Nicht-Wasser-Anteile von Babys, Hühnern und Tomaten seien schließlich keine Verunreinigungen, sondern essentielle Elemente, die sie von anderen Dingen und von Wasser unterscheiden (Barbara Abbott, "Water = H2O", Mind, Bd. 108, Heft 1, Oxford University Press, 1999). Zudem sei Paportes Position inkonsistent: Wenn er statt der essentialistischen Annahme, Wasser sei H2O, die Kriterien von Malt (Fundort, Quelle und Funktion) zugrunde legt, kann er nicht behaupten, daß Tomaten, Würmer und Babys zum größten Teil aus Wasser bestehen, weil das in ihnen vorfindliche Wasser sich nicht an einem für Wasser typischen Ort befinde oder eine wassertypische Funktion oder Quelle hat.

(Quelle: Manuela Lenzen, aus der FAZ vom 11.08.1999)